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Dr. Annette Schleinzer über die „Mystikerin der Straße“ Madeleine Delbrêl.:Dorthin gehen, wo die Kirche nicht ist.

Madeleine Delbrêl (1904 – 1964) gilt als die Mystikerin der Straße und steht als Beispiel dafür, wie man als Christin in einer gottlosen Gesellschaft leben kann. Die Theologin Dr. Annette Schleinzer beschäftigt sich seit 1980 mit ihr und hat 1993 über sie promoviert. Von 2005 bis 2021 war sie theologische Referentin des Bischofs von Magdeburg, inzwischen ist sie im Ruhestand. Im Rahmen eines Fortbildungstages der Frauenseelsorge war sie zu Gast in unserem Bistum. Wir haben mit der Delbrêl-Expertin über die Sprache der Kirche gesprochen und was es heißt, „Gott einen Ort zu sichern“.
Dr. Annette Schleinzer (li.), Annette Lenders
Datum:
15. Mai 2023

Gott einen Ort sichern. Was hat Madeleine Delbrêl damit genau gemeint?

Madeleine Delbrêl ging es mit diesem Satz vor allem darum, dass Christen und Christinnen dazu berufen sind, in ihrem Leben Gott aufleuchten zu lassen. Ihre Sehnsucht war es, dass Gott in der Gesellschaft nicht totgeschwiegen wird; vor allem aber suchte sie unaufhörlich nach Wegen, wie Menschen, für die Gott keine Rolle (mehr) spielt, mit seinem Geheimnis in Berührung kommen können. Das geschah für sie am tiefsten in Begegnungen, in denen etwas von dem, wovon sie selbst erfüllt war, überfließen konnte. Ihr Ziel war es nicht, Menschen zu bekehren oder sie als Mitglieder für die Kirche zu gewinnen. Sie hatte einen tiefen Respekt vor der Freiheit der Einzelnen und vor ihrem je eigenen Weg – auch wenn sie davon überzeugt war, dass es die tiefste Bestimmung der Menschen ist, mit Gott in Beziehung zu sein.

Ganz wichtig wurde es für sie dabei, aus gewohnten Weisen der Verkündigung aufzubrechen: „Gerade weil wir Kirche sind, gehen wir dorthin, wo Kirche nicht ist“, schrieb sie einmal. Und das hieß, Gott dort zu suchen, wo die Menschen leben: mitten in der kommunistisch regierten Arbeiterstadt Ivry, wo sie selbst lebte. Er begegnete ihr in den Armen ihrer Stadt, er begegnete ihr mitten im Lärm der Straße, in der Metro, in einem Pariser Café.

Sie selbst zog mit ihrer kleinen Gemeinschaft von Frauen deshalb auch direkt neben das kommunistisch regierte Rathaus, um den Menschen nahe zu sein, die Christus nicht kannten.

Was macht die Sprache der Kirche aus Sicht von Madeleine Delbrêl aus, wenn sie sagt, dass die Sprache Jesu das Herz eines Menschen am tiefsten erreichen kann ?

Die Sprache der Kirche, wie Madeleine Delbrêl sie konkret erlebt hat, ist ihrer Meinung nach oft eine tote Sprache von ‚längst verstorbenen Leuten‘ und transportiere kaum noch etwas vom Geheimnis Gottes. Um von Gott zu sprechen, ist für sie deshalb eine immer neue, sensible Übersetzungsarbeit vonnöten. Man wird, schreibt sie, das „Unübersetzbare umkreisen, sich ihm annähern, es zusammenfassen, erahnen lassen müssen.“

Es kommt dabei immer auch darauf an, wie etwas ausgesprochen wird. Sie empfahl deshalb vor allem hauptamtlich Tätigen, „eine Unterrichtsstunde in guter Aussprache bei Edith Piaf“ zu nehmen. Die Sprache aber, die am tiefsten etwas vom Geheimnis Gottes vermitteln kann, ist für Madeleine Delbrêl die Sprache Jesu, die in seinen vielen Begegnungen mit den Menschen eine Sprache der (Herzens-)Güte war. Die Herzensgüte ist es, die das Herz eines Menschen am ehesten mit Gott in Berührung bringen kann. Sie weckt sozusagen den Geschmack an Gott.

Wie muss ich mir konkret die Forschung über eine Person wie Madeleine Delbrêl vorstellen?

Als ich im Jahr 1980 in das Haus der Gemeinschaft Madeleine Delbrêls in Ivry – in der Pariser Banlieue - gekommen bin, stand dort ein ganzer Wohnzimmerschrank voll mit bis dahin unveröffentlichten Schriften Madeleine Delbrêls. Es gibt eine Fülle an Briefen, Meditationen und Reflexionen, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren, sondern Gelegenheitsschriften waren oder für ihre Gemeinschaft verfasst wurden. Selbst hat Madeleine Delbrêl, die sich als eine ‚Frau der Feder‘ bezeichnet hat, nur ein einziges Buch hinterlassen. Ich habe damals all diese Texte gelesen und auf der Grundlage versucht, ein Buch zu schreiben. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts sind einige Texte auf Deutsch erschienen (in der Übersetzung von Hans Urs von Balthasar). Vieles habe ich inzwischen im Lauf der Jahre selbst übersetzt und herausgegeben. Inzwischen sind bereits 17 Bände auf Französisch erschienen und weitere werden folgen.

Heute – fast 60 Jahre nach ihrem Tod – erscheint mir Madeleine Delbrêl mehr denn je als eine prophetische Gestalt, die uns gerade auch in Deutschland etwas zu sagen hat, wenn es um die Erneuerung der Kirche geht.