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Haben Sie schon mal Sprache gesehen?

Ohr
Datum:
19. Sep. 2022

Wenn Gehörlose miteinander gebärden, wird Sprache auf besondere Weise sichtbar.

Gehörlose Menschen sind Augenmenschen. Sie sehen, was man ihnen zeigt oder anbietet oder bildhaft erschließt. Gehörlose lieben Bilder zur Erklärung, egal ob Fotos, Comics oder Kunst. Letzteres eher weniger.

Gute gebärdensprachliche Erzählung des Evangeliums ist Kunst! Gebärden beschreiben mehr Sinnzusammenhänge, als dass sie Worte wie beim Sprechen einzeln aneinander reihen.

Mit der wunderbaren Gebärdensprache kann vieles erzählt und auf besondere Weise zum Nachdenken angeregt werden. Durch Nachdenken wird der je eigene spirituelle Geist geweckt.

Jede:r Gehörlose ist begabt und begnadet. Diese Begabung und Begnadung darf ich als Gehörlosenseelsorger fördern und bereichern. So einfach ist diese dankbare Arbeit nicht. Es verlangt intensive eigene Vorbereitungen und eigene tiefe Spiritualität, die weitergegeben und mit jeder:m entdeckt werden möchte.

Dabei denke ich als Gehörlosenseelsorger an die Worte des Apostel Paulus. "Der Glaube kommt vom hören." (Röm 10,17), und davor steht "Und wie können sie von ihm hören, wenn niemand Gottes Botschaft erklärt?" (Röm 10,14).

Natürlich kommt es dabei nicht auf den organischen Vorgang des Hörens an, sondern auf das Empfangen der Botschaft: für jeden Menschen in seiner Sprache, für Gehörlose in ihrer Muttersprache: der Gebärdensprache.

Gehörlose Menschen sind "Augenmenschen" und erfahren über die Augen das "Hören".

Wie schwer ist es, Gehörlosen das „Wort“ in seiner „Breite und Länge in seiner Höhe und Tiefe (Eph 3,18) zu erschließen. Wie herausfordernd ist es, das Evangelium erfahrbar zu machen.

Vielleicht können wir – Hörende und Gehörlose – mehr voneinander lernen als uns bisher klar ist: die richtige Sprache suchen und finden, um die Tür in der Seelsorge zum Gegenüber zu öffnen.

Diakon Josef Rothkopf, Gehörlosenseelsorger im Bistum Aachen