Dr. Thomas Ervens über die Herausforderungen der kommenden Umsetzungsphase.:„Wir lernen eine neue Sprache, ein neues Denken“
Knapp ein Jahr nach den Synodalkreisbeschlüssen fragen sich viele, wohin die Reise der Kirche von Aachen geht. Wie sieht der Weg aus?
Wir stehen an einem entscheidenden Punkt: weltkirchlich, in Deutschland und ganz konkret im Bistum Aachen. Entweder verstehen wir mit Kopf und Herz, dass wir nicht mehr viele Chancen haben, oder wir drohen in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.
Die Synodalkreisbeschlüsse geben die Richtung vor, an die sich der Bischof gebunden sieht. Wir arbeiten mit Hochdruck an der Umsetzung, die im Detail und in der Vernetzung der unterschiedlichen Beteiligten, Themen und Schwerpunkte zweifellos herausfordernd ist.
Welche Chancen sehen Sie?
Bei einer Veranstaltung mit den Regionalteams habe ich jüngst in Anlehnung an die bekannte Rede des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog gesagt: Es muss ein Ruck durch das Bistum Aachen gehen. Wir können, dürfen und müssen anders neu handeln. Und zwar jetzt. Wir brauchen das Bewusstsein bei möglichst vielen Menschen dafür, dass es losgehen und konkret anders werden muss und kann.
Eine weitere Herausforderung ist, dass wir uns zu sehr auf die Frage der Strukturen konzentrieren. Dabei lebt Kirche von einem vitalen und kreativen Engagement vor Ort, dem wir künftig mehr Raum geben müssen. Unendlich viele engagierte Menschen in Haupt- und Ehrenamt sind hoch motiviert, diese Veränderung mit zu gestalten.
Und das bedeutet konkret?
Es gibt aus meiner Sicht zwei zentrale Aspekte innerhalb eines notwendigen Kultur- und Haltungswechsels. Der erste konzentriert sich auf das, was der Synodalkreis als „Orte von Kirche“ bezeichnet hat.
„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“, heißt es bei Matthäus 18,20. Um es mit meinen Worten zu sagen: Da, wo sich Menschen begegnen und sich diese Begegnung nicht im sozial-horizontalen Miteinander erschöpft, sondern auf Christus, auf Gott hin geöffnet ist, da ist Christus selbst da. Das ist aus meiner Sicht eine Kurzdefinition von Kirche.
Da Kirche niemals abstrakt, sondern konkret in Raum und Zeit ist, kann man von einem Ort oder besser gleich im Plural von Orten sprechen. Diese Orte wiederum sind nicht zwangs- läufig mit den geläufigen Kirchorten gleichzusetzen, sondern können viel weiter verstanden werden.
Eine sehr eindrückliche Erzählung an einem solchen Ort auf dem Weg ist die Emmausgeschichte. Zwei niedergeschlagene Jünger sind nach dem Tod Jesu auf dem Weg von Ort zu Ort. Ihnen fällt während des Gehens die Veränderung auf: Brannte nicht das Herz in der Brust? Diese emotionale, ganzheitliche Erfahrung, die ihre Spitze schließlich im gemeinsamen Mahl findet, ist nicht nur ein Prototyp von christlichem Gottesdienst. Sie ist zugleich Maßstab für jeden kirchlichen Vollzug. So etwas geschieht im Kleinen und Großen. In Familien, Freundeskreisen, Verbänden und bei Großevents. Das Grundschema bleibt gleich: zwei oder drei im Namen Jesu, in Gemeinschaft mit ihm.
Das klingt nach einer bunten und lebendigen Vielfalt.
Ja, die Vielfalt dieser Orte ist so bunt und verschiedenartig wie Menschen sind. Wenn es sich aber um Orte der Gegenwart mit Christus handeln soll, dann sind diese Orte und Räume immer auch verwiesen über sich selbst hinaus: auf die Fremden, die am Rande stehen, die anderen Orte von Kirche.
Und hier kommen dann die Pastoralen Räume in den Blick. Sie wollen im neuen Paradigma den Rahmen ermöglichen, sie bilden so etwas wie die sozialräumlich-territoriale und theologisch gesprochen inhaltlich-sakramentale Klammer.
Hier müssen Fragen von Leitung und Übernahme von verschiedenen Aufgaben, vermögensrechtliche Fragen, Einbindung in die kirchenrechtlichen Normen, Einsatz von Personal und viele andere Punkte entschieden, geregelt und zugewiesen werden. Ohne das Denken von der Mitte aus, vom Herzen her, das, wie die Bischöfe in einem viel beachteten Papier schreiben, in der Seelsorge schlägt, bleibt Kirche kraftlos. Ohne die lebendigen Orte von Kirche bleiben die Strukturen auf Dauer leer. Dann bleiben wir bei den volkskirchlichen Strukturen stehen und blockieren uns selbst auf dem Weg zu einer echten Erneuerung. Es gibt sehr gute Beispiele, viele lebendige Orte von Kirche, die es zu entdecken gilt. Es ist ein konkretes Weiterdenken und Umsetzen, was im Bistum seit vielen Jahren als „Weggemeinschaft“ erkannt und gedacht wird. Zugleich gehört aber auch Ehrlichkeit dazu, sich einzugestehen, dass manche Orte, die sich als solche Orte bezeichnen, nicht mehr aktiv sind. Hier braucht es den Mut zum Eingeständnis, zur Entscheidung, zum Abschied. Und auch dieser will gelernt und gefeiert sein. Das hilft, den Blick nach vorne zu richten.
Umdenken ist gefragt, was noch viel Überzeugungsarbeit und Bewusstseinswandel erfordert. Wie kann das gelingen?
Hier greift der zweite Paradigmenwechsel, den ich angedeutet habe: Er betrifft das neue Miteinander und Füreinander von Haupt-, Neben- und Ehrenamt. Es wird auf Zukunft hin immer weniger möglich sein, die gewünschten kirchlichen Vollzüge mit Hauptamtlichen zu garantieren. Weder mit Priestern noch mit Diakonen, Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten oder Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten. Das mag aus volkskirchlicher Sicht als Mangel, als ein Nicht-Mehr erscheinen. Damit wir aber nicht zu Nachlassverwaltern werden, müssen wir uns auch verabschieden und neu denken können. Im ehrlichen Abschied von alten Bahnen kann auch der Aufbruch zu etwas Neuem, Anderen, sicherlich Kleineren stehen. Die Kirche von morgen wird immer mehr von Haupt- amtlichen und Ehrenamtlichen gemeinsam getragen sein, und zwar nicht nach einem Top-Down-System, also von oben nach unten, sondern gemeinsam. Dies erfordert ein gewaltiges Umdenken. Ein gutes Beispiel für das Miteinander von Haupt- und Ehrenamt stellen aus meiner Sicht die Regionalteams dar. Wir brauchen mehr Mut und Engagement in diese Richtung.
So sehen Sie die Kirche von Aachen also gemeinsam auf dem Weg zur Pastoral 2028: Wird es einen inhaltlichen Referenzrahmen für weitere strategische Festlegungen geben?
Ja, es braucht einen inhaltlichen Referenzrahmen für weitere strategische Festlegungen; wir müssen schauen, wo wir unsere Schwerpunkte setzen. Zugleich ist mit dem Gesagten das Entscheidende festgehalten: Das pastorale Selbstverständnis der Kirche von Aachen gründet einerseits in Jesus Christus und seinem Evangelium, andererseits zugleich in den Menschen von heute. In diesem dynamischen Spannungsfeld lebt und entwickelt sich Kirche immer weiter, vollzieht sie ihren missionarischen (von Christus her) und diakonischen (auf den Menschen hin) Auftrag. In Liturgie, im Zeugnis in der Welt, im Dienst an den Menschen. Dazu bedarf es Menschen mit ganz unterschiedlichen Charismen, Talenten, Kompetenzen und Zuständigkeiten, die aus der Überzeugung des Evangeliums ihr Leben, das Leben der Welt und der Kirche gestalten. Schauen wir nicht zurück auf das Vergehende, sondern packen wir zu und gestalten die Veränderung aktiv vom Evangelium her. Dazu gibt es viele gute Aufbrüche und Schätze, die wir heben, zusammentragen und auf Zukunft hin ermöglichen können.